Category: Auf der Suche nach einer besseren Welt

Piper: 1995.

The objectivity of a critical tradition

Elfte These: Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, daß die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt. Und es ist gänzlich verfehlt zu glauben, dass der Naturwissenschaftler objektiver ist als der Sozialwissenschaftler. Der Naturwissenschaftler ist ebenso parteiisch wie alle anderen Menschen, und er ist leider – wenn er nicht zu den wenigen gehört, die dauernd neue Ideen produzieren – gewöhnlich äußerst einseitig und par­teiisch für seine eigenen Ideen eingenommen. Einige der hervorragendsten zeitgenössischen Physiker haben sogar Schulen gegründet, die neuen Ideen einen mächtigen Widerstand entgegensetzen.

Meine These hat aber auch eine positive Seite, und diese ist wichtiger. Sie ist der Inhalt meiner zwölften These.

Zwölfte These: Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischen Tradition; in jener Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren. Anders ausgedrückt, die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeits­teilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihres Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen. [88]

The naive “anthropologist from Mars”

Zehnte These: Der Sieg der Anthropologie ist der Sieg einer angeblich beobachtenden, angeblich beschreibenden und angeblich induktiv-generalisierenden Methodologie, und vor allem anderen einer angeblich objektiveren und daher dem Anschein nach naturwissenschaftlichen Methode. Es ist ein Pyrrhussieg; noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren – das heißt nämlich die Anthropologie und die Soziologie.

Meine zehnte These ist, wie ich gerne zugebe, ein wenig zu scharf gefasst. Vor allem muß ich zugeben, daß viel Interessantes und Wichtiges von der sozialen Anthropologie entdeckt wurde und daß sie eine der erfolgreichsten Sozialwissenschaften ist. Und ich will auch gerne zugeben, daß es für uns Europäer von großem Reiz und von großem Interesse sein kann, uns einmal selbst durch die Brille des sozialen Anthropologen zu betrachten. Aber obwohl diese Brille vielleicht farbiger ist als andere Brillen, so ist sie eben deshalb wohl kaum objektiver. Der Anthropologe ist nicht der Beobachter vom Mars, der er oft zu sein glaubt, und dessen soziale Rolle er nicht selten und nicht ungern zu spielen versucht; und es gibt auch keinen Grund, anzunehmen, daß ein Bewohner vom Mars uns „objektiver“ sehen würde, als wir uns zum Beispiel selbst sehen. [85]

No such thing as a scientific “discipline”

Neunte These: Ein sogenanntes wissenschaftliches Fach ist nur ein abgegrenztes und konstruiertes Konglomerat von Problemen und Lösungsversuchen. Was es aber wirklich gibt, das sind die Probleme und die wissenschaftlichen Traditionen. [84]

Misguided “scientism”

Um den Gehalt dieser meiner Hauptthese und ihre Bedeutung für die Soziologie ein wenig anzudeuten, wird es zweck­mäßig sein, ihr gewisse andere Thesen einer weit verbreiteten und oft ganz unbewußt absorbierten Methodologie gegenüberzustellen.

Da ist zum Beispiel der verfehlte und mißverständliche methodologische Naturalismus oder Szientismus, der verlangt, daß die Sozialwissenschaften endlich von den Naturwissenschaften lernen, was wissenschaftliche Methode ist. Dieser verfehlte Naturalismus stellt Forderungen auf wie: Beginne mit Beobachtungen und Messungen; das heißt zum Bei­spiel, mit statistischen Erhebungen; schreite dann induktiv zu Verallgemeinerungen vor und zur Theorienbildung. Auf diese Weise wirst Du dem Ideal der wissenschaftlichen Objektivität näher kommen, soweit das in den Sozialwissen­schaften überhaupt möglich, ist. Dabei mußt Du Dir darüber klar sein, daß in den Sozialwissenschaften die Objektivität weit schwieriger zu erreichen ist (falls sie überhaupt zu erreichen ist) als in den Naturwissenschaften; denn Objektivität bedeutet Wertfreiheit, und der Sozialwissenschaftler kann sich nur in den seltensten Fällen von den Wertungen seiner eigenen Gesellschaftsschicht soweit emanzipieren, um auch nur einigermaßen zur Wertfreiheit und Objektivität vor­zudringen.

Meiner Meinung nach ist jeder der Sätze, die ich hier diesem verfehlten Naturalismus zugeschrieben habe, grund­falsch und auf ein Mißverständnis der naturwissenschaftlichen Methode begründet, ja geradezu auf einen Mythus – einen leider allzu weit verbreiteten und einflußreichen Mythus vom induktiven Charakter der naturwissenschaftlichen Methode und vom Charakter der naturwissenschaftlichen Objektivität. [83]

Knowledge is born out of problems

Vierte These: Soweit man überhaupt davon sprechen kann, daß die Wissenschaft oder die Erkenntnis irgendwo be­ginnt, so gilt folgendes: Die Erkenntnis beginnt nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen oder der Sammlung von Daten oder von Tatsachen, sondern sie beginnt mit Problemen. Kein Wissen ohne Probleme – aber auch kein Problem ohne Wissen. Das heißt, daß sie mit der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen beginnt: Kein Problem ohne Wissen – kein Problem ohne Nichtwissen. Denn jedes Problem entsteht durch die Entdeckung, daß etwas in unserem vermeintlichen Wissen nicht in Ordnung ist; oder logisch betrachtet, in der Entdeckung eines inneren Wider­spruches in unserem vermeintlichen Wissen, oder eines Widerspruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den Tatsachen; oder vielleicht noch etwas richtiger ausgedrückt, in der Entdeckung eines anscheinenden Wider­spruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den vermeintlichen Tatsachen. [80-1]

The method of the social sciences

Sechste These (Hauptthese):

a) Die Methode der Sozialwissenschaften wie auch die der Naturwissenschaften besteht darin, Lösungsversuche für ihre Probleme – die Probleme, von denen sie ausgeht – auszuprobieren.

Lösungen werden vorgeschlagen und kritisiert. Wenn ein Lösungsversuch der sachlichen Kritik nicht zugänglich ist, so wird er eben deshalb als unwissenschaftlich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur vorläufig.

b) Wenn er einer sachlichen Kritik zugänglich ist, dann versuchen wir, ihn zu widerlegen; denn alle Kritkk besteht in Widerlegungsversuchen.

c) Wenn ein Lösungsversuch durch unsere Kritik widerlegt wird, so versuchen wir es mit einem anderen.

d) Wenn er der Kritik standhält, dann akzeptieren wir ihn vorläufig; und zwar akzeptieren wir ihn vor allem als würdig, weiter diskutiert und kritisiert zu werden.

e) Die Methode der Wissenschaft ist also die des tentativen Lösungsversuches (oder Einfalls), der von der schärfsten Kritik kontrolliert wird. Es ist eine kritische Fortbildung der Methode des Versuchs und Irrtums („trial and error“).

f) Die sogenannte Objektivität der Wissenschaft besteht in der Objektivität der kritische Methode; das heißt aber vor allem darin, daß keine Theorie von der Kritik befreit ist, und auch darin, daß die logischen Hilfmittel der Kritik – die Kategorie des logischen Widerspruchs – objektiv sind. [82]

An intellectual’s duty

Jeder Intellektuelle hat eine ganz spezielle Verantwortung. Er hat das Privileg und die Gelegenheit, zu studieren. Dafür schuldet er es seinen Mitmenschen (oder „der Gesellschaft“), die Ergebnisse seines Studiums in der einfachsten und klarsten und bescheidensten Form darzustellen. Das schlimmste – die Sünde gegen den heiligen Geist – ist, wenn die Intellektuellen es versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspielen und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken. Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiter­arbeiten, bis er’s klar sagen kann. [100]

Imagination and criticism in science

Diese spekualtiven Welten sind, wie in der Kunst, Produkte unserer Phantasie, unserer Intuition. Aber in der Wissen­schaft werden sie von der Kritik kontrolliert: Die wissenschaftliche Kritik, die rationale Kritik, ist von der regulativen Idee der Wahrheit geleitet. Wir können unsere wissenschaftlichen Theorien niemals recht­fertigen, denn wir können nie wissen, ob sie sich nicht als falsch herausstellen werden. Aber wir können sie kritisch überprüfen: An die Stelle der Rechtfertigung tritt die rationale Kritik. Die Kritik zügelt die Phantasie, ohne sie zu fesseln. [67]