Category: Briefwechsel

Fischer: 1997.

A brilliant hindsight into science

[Feyerabend:] Anarchismus heißt also nicht: überhaupt keine Methode, sondern alle Methoden, nur unter verschiede­nen Umständen verschiedene Methoden angewendet (einmal ist es besser, dogmatisch zu sein; dann wieder ist es besser, auf Falsifikationen zu achten; dann wieder ist es besser eine ad hoc Hypothese nach der anderen zu verwen­den; dann wieder ist es besser zu schwindeln, und so weiter und so fort). Und wenn Du mich fragst, ob es allgemeine Regeln gibt, die es uns gestatten zu entscheiden, wann welche Methode angewendet werden muß, dann sage ich nein, denn die Richtigkeit eines Vorgehens stellt sich oft erst hinterher heraus, 300 Jahre vielleicht nachdem man be­gonnen hat zu tun was man „nach guter Methode“ nicht hätte tun dürfen. Gerade der Umstand, daß die Brauchbarkeit, die Rationalität gewisser Verfahrensweisen erst auf Grund von Information entschieden werden kan, die Jahrhunderte später kommt, die aber nicht gekommen wäre, hätte man nicht die in Frage stehende Methode verwendet, zeigt, daß es ein elender Simplizismus ist, wenn man versucht, gewisse einfache Regeln (sei kritisch! etc.) zur Grundlage aller Ver­fahrensweisen zu machen. … Was lernt man nun am besten in der Wissenschaftstheorie? Man sieht sich am besten die verschiedenen Schachzüge an, die in verschiedenen historischen Situationen zum Erfolg geführt haben, und übt die eigene Intuition, indem man sich an Hand neuer wissenschaftlicher Probleme überlegt, welche Methode wohl hier die geeigneteste wäre. [144-5]

Feyerabend’s faith in science

[Feyerabend:] Ein Romantiker bin ich schon immer gewesen, und nun greift das eben auch auf die Wissenschaftstheo­rie über und auf die Philosophie im allgemeinen. Daß der Popper keine bestimmten Regeln hat, und daß daher mein Angriff auf bestimmte Regeln ins Leere schlägt, kann ich nicht zugeben, denn beim Popper kann man ja doch nicht tun was man will (dann wäre er ja ein Anarchist). Gewisse Einschränkungen gibt es da schon, zum Beispiel, daß man Argumente gegen einen Standpunkt in Betracht ziehen soll, daß man auf Kritik hören soll und seine Ohren vor ihr nicht ver­schließen soll, und so weiter. Nun scheint es mir aber, wenn man auf die Wissenschaftsgeschichte blickt, und vor allem auf das optische Beispiel des Galilei, das ich in Empiricism ii behandle, daß diese Regeln noch viel zu re­striktiv sind, und das sagt Galilei auch selbst: er preist Kopernikus (auch Aristarch), daß sie den Glauben an ihre Ideen trotz aller Gegenargumente beibehalten haben und diese Ideen nicht aufgaben. Also, was Galilei sagt, ist: im Falle der Kopernikanischen Theorie war es gut nicht auf Argumente, sondern auf den Glauben zu hören. Das ist bei Popper verboten (oder bist Du etwa anderer Meinung? Die Form der Argumente ist dabei gar nicht wesentlich, die kann sich ändern, wie Du ja auch selbst sagst; aber Galilei sagt, daß was auch immer die Form der Argumente sei, man sie manchmal beiseite schieben muß, und man muß dann auf einem Glauben beharren). Nun weiß ich sehr wohl, daß Popper selbst dieses Vorgehen des Galilei kennt, und zitiert, als sei es mit seinem System vereinbar. Aber das ist eben nicht der Fall. In der Praxis preist Popper manchmal Methoden, die seiner Theorie („höre auf Argumente“; „nimm kri­tische Bemerkungen ernst“ etc. etc.) widersprechen, denn er ist ja doch von der tatsächlichen Wissenschaft zu sehr beeindruckt, als daß er es wagen würde, den Galilei etwa zu kritisieren. Aber die Geschichte paßt ja nicht in seine Theorie, die noch immer Einschränkungen predigt, wenn auch diese Einschränkungen schon sehr allgemein gewor­den sind, und viel weniger tyrannisch, als die Einschränkungen der Induktivisten. [133]